Zum Jahreswechsel

Zum Jahreswechsel

Die Entwicklung z.B. seit Ende 1945 lässt sich ggf. mit einer langen Zugreise vergleichen. Unter größten Anstrengungen versuchte man, die einzelnen Wagons wieder flott zu bekommen, damit der Zug abfahren kann. Obwohl man sich eben noch feindlich gegenüberstand, unterstützen die Passagiere und Zugbegleiter*innen primär eines Wagons, nicht ganz uneigennützig, insbesondere jene eines anderen Wagons, um diesen auch möglichst komfortabel auszustatten.

Dies gelingt, der Zug nimmt Fahrt auf, der Komfort in einzelnen aber leider nicht allen Wagons nimmt permanent zu, man pflegt Freundschaften und ab und an schaut man auch in den anderen Wagons vorbei. Mal nimmt man eine Kleinigkeit mit, häufig „braucht“ man aber auch etwas.

Der hohe Komfort, das Bordservice etc. sind längst so selbstverständlich geworden, dass dies als gegeben angenommen wird. Mehr und mehr zieht man sich in einzelne Abteile zurück, während manche den Zug leider schon verlassen haben, kennen die im Zug geborenen Kinder gar nichts anderes mehr. Die Jalousien in einzelnen Abteilen sind längst geschlossen, d.h. auch das Gefühl für die Geschwindigkeit ist abhandengekommen.

Durch eine kleine Baustelle muss der Zug die Geschwindigkeit etwas reduzieren, jene, die am Fenster sitzen und noch den Blick auf die großartige Umwelt gerichtet haben, merken, dass der Zug nur etwas langsamer geworden ist.

Andere, welche in den Abteilen mit den geschlossenen Jalousien sitzen, glauben panikartig, dass der Zug in die Gegenrichtung fährt (vergleichbar mit dem Eindruck welchen man z.B. bei einem sehr schnellen Lift beim Bremsen hat).

Die Aufregung ist enorm, man hält den/die Lokführer*in, die Zugbegleiter*innen und auch die anderen Passagiere für unfähig, fordert vehement Informationen ein, möchte aber eigentlich nur die eigene Meinung bestätigt wissen und den Zug wieder auf volle Fahrt bringen, unabhängig davon, ob man die Baustelle dann sicher passieren kann. Die wildesten Theorien werden entwickelt, warum Insassen eines anderen oder des eigenen Wagons den Zug zum Entgleisen bringen möchten.

Andere wiederum erklären, dass sie es immer schon gewusst haben, dass die Geschwindigkeit und der Komfort in welchen sie hineingeboren wurden, viel zu hoch sind, fordern ultimativ eine radikale Abkehr ein (Revolution statt Evolution!), haben aber leider wenig Ahnung, warum der Zug eigentlich bisher so problemlos betrieben werden konnte, welche Notwendigkeiten hier erforderlich sind und wie man den Zug mit angenehmer Geschwindigkeit und Komfort weiter betreiben kann.

Die noch schweigende Mehrheit der Wagonpassagiere ist wenig erfreut, sieht aber die Notwendigkeit der Geschwindigkeitsreduktion auf Grund der Baustelle. Manche wiederum sind beinahe froh, dass es zu Polarisierungen kommt und picken sich die Rosinen heraus, andere arbeiten vehement an der Behebung der Baustelle und ärgern sich über die Untätigen. 

Ein echtes Dilemma, man kann nur hoffen, dass sich Lokführer*in, Zugbegleiter*innen und Passagiere wieder zusammenfinden, dass der Zug weiterfährt. Mit einer wechselseitigen Schuldzuweisung und ohne umfassende Kenntnisse der Gesamtsituation wird dies nicht gelingen, mit der Entscheidung, ob man Zugbegleiter*in oder Passagier sein möchte, wohl eher.

Ich genieße es durchaus, in vielen Bereichen, in welchen ich keine Expertise habe, Passagier in einem umsichtig gelenkten Zug zu sein. Ich freue mich aber auch, dass meine Kenntnis in manchen Bereichen gehört wird und ab und an die Zugfahrt etwas beeinflusst.

Das Jahr 2020 war, wie für meine Generation alle Jahre davor, ein sehr gutes Jahr. Natürlich war die Wegstrecke gefühlt etwas holpriger als in manchen Jahren davor, für manche unbestritten deutlich mehr als für andere!

Diese Momentaufnahme sollte uns aber nicht trennen, verbittern oder gar extrem polarisieren, sondern bitte immer noch den Blick für die großartige Gesamtsituation ermöglichen.

Ich wünsche Ihnen zum Jahreswechsel alles erdenklich Gute für 2021 und die vielen Jahre, die noch folgen.

 Helmut K. Lackner